blauWer Kind(er) hat, der weiß, dass der Gedanke an Flucht so hin und wieder in einem aufkeimt, wenn mal wieder das große Chaos über einen hereinbricht und Murphy sich gefühlt an jeder Ecke zeigt. Für diese Fälle hat Vera Schroeder das passende Buch geliefert auch, wenn Sie mit “Kleine Fluchten – großes Glück: 20 ungewöhnliche Ideen für ein entspanntes Familienleben – Mit Illustrationen von @kriegundfreitag” eine ganz andere Form der Flucht im Sinn hat. Entspannung im Alltag wünschen wir uns doch alle und wenn es hierfür praktikable Tipps gibt, rufe ich laut: “Immer her damit!”. In der ersten Flucht, welche “Die Zehn-Grad-Verabredung” lautet, geht es im Prinzip darum, im Sommer häufiger mal fünf grade sein zu lassen und nicht über jedes Eis mit den Kindern zu diskutieren. Da bei uns Eis das einzige ist, was meine Tochter mit ihren 21 Monaten an Süßigkeit mag, kenne ich das Problem nicht.

Bei mir darf sie auch im Winter Eis haben und mehrere Bällchen würde sie eh nicht packen. Aber vermutlich richtet sich dieser Ratschlag auch eher an Eltern, die sehr gesund und verdammt konsequent beim Thema Ernährung sind. Dass es meinen Alltag entlastet, wenn ich meinem Kind im Sommer ab 20 Grad ein Eis und dann je 10 Grad mehr ein weiteres erlaube, kann ich mir aber irgendwie nicht so recht vorstellen.


Der nächste Tipp sind “Erlaubniskärtchen für Eltern”. Dabei soll es Erziehenden die “sich mit dem Genug-Sein schwer tun und Schuldgefühle in ihrer Elternrolle gut kennen” erlaubt sein, sich selbst sozusagen Zugeständnisse zu machen wie “Fertigessen statt frisch kochen”, “Fernsehen lassen statt zum Aufräumen zwingen”, “Auch mal aus Versehen “Depp” sagen. Ähhh … ja. Brauche ich dafür eine Erlaubnis? Irgendwie habe ich das verdammte Gefühl, dass ich die falsche Zielgruppe für diesen Ratgeber bin. Wenn die Zeit nicht reicht, ich nicht fit bin oder es einfach für eine große Entlastung sorgt, kommt auch mal ein fertiger Salat auf den Tisch. Und wenn ich einfach null Motivation habe, die Wäsche zusammenzulegen, dann wartet sie eben einen Tag auf dem Schrank bevor sie reinwandert … Eltern, die solche Anregungen brauchen, haben doch nicht mit ihrer Rolle oder der Familie ein Problem, sondern mit sich selbst und ihren Anforderungen an sich. Die werden sie aber sicherlich auch im Beruf und in anderen Bereichen haben.

Die weiteren Ideen lauten “Schreiben Sie mal wieder eine Liste”, “Sagen Sie eine Woche lang alles ab”, “Der blaue Tag”, “Schule, juhuu”, “Zimmertausch”, “Üben Sie >Nein<“, “>Alle auf los<-Wochos!”, “Tempo à la Kind”, “Matratzenlager”, “Urlaub, aber richtig”, “Stofftierparty” und “Das Fürchten lernen”. Dahinter verbergen sich dann teils simple und risikofreie Sachen wie, mit den Kuscheltieren ein Rollenspiel veranstalten, alle Matratzen auf einen Haufen werfen und zusammen dort schlafen, jeden Abend eine Runde zusammen spielen, sich die Schule “schön reden”, eine Woche lang alle zusammen die Abende gemeinsam daheim verbringen. Mein Mann und ich spielen super oft abends eine kleine Runde Würfelspiele, die Tochter ist dafür noch zu klein, ein Matratzenlager wäre für mich der Horror und ich bin unendlich froh, dass meine Tochter in ihrem eigenen Zimmer schläft, Schule ist bei uns noch lange kein Thema, mit den Stofftieren bzw Puppen spielen wir auch immer ein bisschen und in Zeiten von Corona ist man relativ oft abends alleine daheim. Alles also eher nichts für mich und unsere Situation. Über den Tipp besser sechs statt nur zwei Wochen am Stück Urlaub zu machen, werden alle in einem festen Vollzeit-Arbeitsverhältnis oder mit Kindern, die über Kita und Schule feste Ferienzeiten diktiert bekommen, nur lachen. Lachen werden die auch über den Tipp, das Kind das Tempo bestimmen zu lassen, wenn man dann zu spät zur Arbeit kommt, weil das Kind eben nicht schneller essen, packen, laufen wollte. Mag ja sein, dass es dem Kind dann eventuell unangenehm ist, wenn der Lehrer ihm sagt, dass er zu spät ist. Mir wäre es definitiv noch unangenehmer, wenn mein Chef mir das sagt. Vor allem, was mache ich, wenn mein Kind das total unwichtig findet, was der Lehrer sagt? Von da an jeden Tag zu spät kommen, weil es jetzt weiß, dass das geht? Merkwürdiger Ansatz – äußerst fragwürdig in meinen Augen.

“Das Fürchten lernen” und “Üben Sie >Nein<” sind wieder so Übungen, die auch in jedem Psycho-Ratgeber zu finden sind und meiner Meinung nach einfach nicht direkt in den Zusammenhang zum “Familienalltag” zu setzen sind. Da geht es um Persönlichkeitsentwicklung und nicht darum, dass ich den Alltag der Familie verändere. Klar ändert sich alles, wenn ich mich ändere, aber das passt hier einfach nicht.

Ich verstehe durchaus den Grundgedanken, Stress aus dem Alltag zu nehmen und es dadurch für alle angenehmer zu machen. So wie das hier präsentiert wird, funktioniert das für die meisten aber eher nicht. Zumal das Buch einfach zu viel will. Entweder möchte ich Tipps für die Familie, die Ansätze bietet, den Alltag zu entstressen oder ich möchte den Eltern helfen, in ihrer Rolle entstresst zu werden – das ist dann aber ein psychologisches Unterfangen und ein individuell-persönlicher Ansatz. Wenn ich dann zwischen den einzelnen Kapiteln noch die Berichte von Eltern lese, die mit ihren Kindern eine Weltreise unternommen haben, ausgewandert sind, ein Jahr lang reisen oder auf sonstige Art und Weise dem Norm-Standard-Leben in Deutschland entflohen sind, dann ahne ich auch langsam, warum ich nicht die Zielgruppe bin. Weil ich Regeln mag, weil ich Kontinuität, Verlässlichkeit und Routine schätze und von Eltern, die mit ihren Kindern von Ort zu Ort ziehen, weil sie das Leben in Deutschland so anödet, so gar nichts halte. Wenn dann nämlich alle Stricke reißen, das Kind krank wird, der so flexible Job, den man Online überall ausüben kann auf einmal weg ist oder man in der Fremde etwas Unschönes erlebt, dann sind diese Eltern auf einmal ganz schnell wieder zurück und froh darüber, dass es bei uns ein so verlässliches und kontinuierliches System hat. Sorry, so ganz und gar nicht mein Buch.

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